
Die Zeit einer Pilgerreise, einer Pilgerwanderung liegt jenseits des alltäglichen Lebens. Und doch: Sie kommt aus diesem heraus und führt wieder in dieses zurück – neu und anders. Wenn ich pilgere und dies keine Konsequenzen für mein weiteres Leben hat, dann war es wohl eine lebensfremde Übung. Pilgern ist ein ganzheitliches Wahrnehmen des Lebens mit Körper, Geist und Seele und bedeutet körperliche Strapazen, geistige Erkenntnisse und Berührungen der Seele, stiftet Sinn und schenkt Orientierung, lässt mich über Irdisches hinauswachsen. Jede Entscheidung und jeder Schritt am Pilgerweg können mich lehren, bewusster zu leben, bewusster den Umgang mit mir selbst und meinen Mitmenschen, mit der Schöpfung, mit dem Göttlichen zu gestalten.
Pilgern ist die große Schule des Lebens. Dieses Buch soll eine Einladung sein, sich mit der Schule des Lebens vertraut zu machen. Ein Abenteuer. Und auch das ist Pilgern: eine Expedition – hinein in die konkrete Landschaft und ins Unbekannte der eigenen Seele, ein Abenteuer, bei dem ich mich selbst und gleichzeitig auch die Welt entdecken kann. Innen- und Außenwelt bilden die Route. Ungewiss ist wohl der Ausgang einer solchen Pilgerreise: Ich werde ein Anderer, eine Andere sein als beim Aufbruch. Das Unterfangen wird so zu einer spannenden Expedition, zu einer Forschungsreise ins Unbekannte meiner Herzmitte: zu einem Abenteuer.
Derzeit gibt es in Österreich etwa 55 bis 60 ausgebaute Pilgerwege, die rund 25 000 Kilometer umfassen. Die in diesem Buch vorgestellte Auswahl bietet unterschiedliche Zugänge zu den Pilgerwegen an: dem Leben Mariens oder bekannter Heiliger nachzuspüren, die Faszination des Jakobsweges vor der Haustür zu entdecken. Gut möglich aber auch, dass man auf alpinen Wegen in die meditative Stille der Bergwelt eintauchen oder mit dem Rad flexibel die Spiritualität der Straße entdecken möchte.
Wo genau historische Pilgerrouten verlaufen sind, ist meist nur schwer zu rekonstruieren, zumal sich die Wege im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verändert haben. Vielfach werden heute wie damals gangbare Wege gewählt, die mehr oder weniger annähernd an historische Routen herankommen. Auf diese Weise werden asphaltierte Straßen und Wald- oder Feldwege zu Pilgerwegen der Gegenwart.
Wesentlich ist die innere Haltung, mit der ein Weg beschritten wird: das Suchen und Fragen des Pilgers, der Pilgerin, die Offenheit für die Botschaften des Lebens auf diesem und durch diesen Weg für Begegnungen und Erfahrungen. Im äußeren Wandeln wandelt sich der Mensch im Inneren. So lehrt Pilgern leben. Pilgernd Unterwegssein hilft den eigenen Lebensweg tiefer zu verstehen – bei Nacht und Tag, in Chaos und Klarheit, in Monotonie und überschäumender Vielfalt, in Zweifel und Gewissheit. Mit ihren Aufs und Abs gleichen Pilgerwege den Lebenswegen und Lebenswege gleichen Pilgerwegen. Jeder Moment hat sein eigenes Charakteristikum und seine Gestaltung: von der Vorbereitung und dem Aufbruch über das Unterwegssein bis hin zum Ankommen, Verweilen und der Rückkehr.